Arno Gisinger
Sehmaschine Panorama.

"Vom Berge Isel stieg ich hinab in das Panorama (das in der zurzeit tagenden Sportausstellung stand), um die Aussicht - vom Berge Isel zu schauen. Es ist die größte Kühnheit der Kunst, an Ort und Stelle mit der Natur konkurrieren zu wollen (...) Das Schlachtenbild als solches mit dem Gemetzel, den Feuersbrünsten, den zahlreichen Gruppen aus diesem einzigartigen Volkskampfe, macht auf den Beschauer einen starken Eindruck, aber in den Menschengestalten ist die Vollkommenheit der Panoramenmalerei noch nicht erreicht. Die Figuren geben sich im Verhältnisse zu riesenhaft, das ist mir noch in jedem Panorama aufgefallen. Prachtvoll aber ist in diesem Panorama von Innsbruck das Landschaftsbild - das unvergleichliche Landschaftsbild, wie so großartig, malerisch und freundlich zugleich es kaum eine andere Stadt unserer Himmelsstriche aufzuweisen hat. (...) Als ich ins Freie trat, stand dasselbe Landschaftsbild in Natur um mich da ­ und die Natur hat den Eindruck der Kunst nicht erreicht. Ein ungeheurer Erfolg."
Mit solch patriotischer Begeisterung schilderte der österreichische Schriftsteller Peter Rosegger in seinen Reisebeschreibungen "Alpensommer" seine Eindrücke vom Besuch des riesigen Panoramengemäldes, das im Sommer 1896 in Innsbruck für Furore sorgte. Auch wenn die ungebrochene Euphorie angesichts eines solchen Sieges der Kunst über die Natur heute als naiv erscheinen mag, so ist sie dennoch Ausdruck des uralten Traums vom perfekten Simulakrum, von einer möglichst identischen Nachahmung der Natur durch den Menschen. Und sind nicht gerade die künstlichen Bildwelten und computergenerierten Simulationsräume von heute Ausdruck genau jener Sehnsüchte, die im 19. Jahrhundert durch die Erfindung neuer Medien wie Fotografie, Stereoskop, Panorama oder Diorama konkretisiert wurden? Was ist das besondere Faszinosum, das heute noch über 100 000 Besucherinnen und Besucher jährlich nach Innsbruck in eines der letzten original erhaltenen Panoramen Europas, in eine gegenüber Imax und Cyberspace geradezu archaisch anmutende "Sehmaschine" lockt?
Umgeben von rund Tausend Quadratmetern bemalter Leinwand in realistischer Bildsprache und einer künstlichen, mit musealen Objekten angereicherten Landschaft (Faux Terrain), befinden wir uns inmitten der Tiroler Unabhängigkeitskriege am Beginn des 19. Jahrhunderts - zurückkatapultiert wie durch eine Zeitmaschine in eine vor-mediale Epoche. Vor dem Hintergrund einer idyllischen Bergkulisse tobt die entscheidende Bergisel-Schlacht am späten Nachmittag des 13. August 1809, durch die es dem Tiroler Volksaufgebot unter der Führung von Andreas Hofer gelingt, die napoleonischen und bayerischen Belagerungstruppen zum Abzug aus Tirol zu bewegen. Auch wenn die Fortsetzung dieser glorreichen Episode aus der jüngeren Tiroler Geschichte weniger glücklich verläuft, Andreas Hofer wird 1810 in Mantua erschossen, bleiben die Kämpfe am Bergisel bis heute eines der stärksten Symbole für den Kampf um die Unabhängigkeit des Landes, aber auch für die Abwehr von fremden Einflüssen von außen: von Modernität und Laizismus.
Die besondere Bedeutung des Innsbrucker "Riesenrundgemäldes", wie es oft liebevoll genannt wird, liegt im Vergleich zu anderen panoramatischen Bildern des 19. Jahrhunderts in einer geradezu idealtypischen Verknüpfung der beiden klassischen Genres von Landschaftsmalerei und Historienmalerei. Doch sowohl die pittoreske Naturdarstellung, der Blick auf Wilten und die Stadt Innsbruck im Hintergrund als auch die mit Patriotismus angereicherte Schlachtenschilderung sind Rückprojektionen des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf eine vermeintlich intakte, von den industriellen Negativerscheinungen noch weitgehend verschonte Heimat, die es zu erhalten und notfalls auch mit Waffengewalt zu verteidigen gilt. Das Innsbrucker Panorama ist in diesem Sinne nicht nur eine "Besänftigungslandschaft" (Hermann Bausinger) zur Kompensierung von Modernitäts- und Industrialisierungserscheinungen, sondern gleichzeitig ein von Heroen und potentiellen Feinden bevölkertes Schlachtfeld nationaler und lokaler Identitätsstiftung.
Die statische Landschaftkulisse und die dynamische Ereignisdarstellung verbinden sich zu einem Dispositiv, das den Betrachter unweigerlich in das historische Geschehen miteinbezieht. Die Erfindung des Panoramas markiert einen deutlichen Bruch mit dem seit der Renaissance dominierenden Darstellungsmodell des zentralperspektivischen Tafelbildes. Es gibt im Panorama nicht mehr den einen, idealen Betrachterstandpunkt, sondern eine Verschmelzung von multiplen Zentralperspektiven. Der Betrachter tastet mit seinem Blick das zirkulare 360°-Bild ab und bewegt sich dabei sozusagen mit seinem Körper in der virtuellen Bildrealität. Er soll dadurch vom kontemplativen Betrachter zum anteilnehmenden Akteur gemacht werden. Durch seine Verbindung von Kunst und Technik im Kontext neuer physiologischer Erkenntnisse kann das Panorama als paradigmatisch für das neue Sehen im 19. Jahrhundert betrachtet werden. Die Geschichte des Panoramas als Kunstform und Massenmedium umspannt von seiner Patentierung durch Robert Barker (1787) bis zu den letzten Ausläufern einer "industriellen" Produktionsweise am Ende des 19. Jahrhunderts (dazu gehört auch das Innsbrucker Panorama), nicht zufällig jenes Jahrhundert, das ein "neues skopisches Regime" errichtet und zu einer "epochalen Engführung von Physiologie und Medientechnik" (Wolfgang Kemp) geführt hat.
Metaphorisch gesprochen ist die Plattform eines Panoramas der ideale, weil identitätsstiftende Versammlungsraum für einen Versuch des Zusammenhaltens zentrifugaler gesellschaftlicher Kräfte im sozialen, politischen, kulturellen und religiösen Bereich. Die Sehmaschine Panorama lenkt dabei den Blick in eine ganz bestimmte Richtung. Sie formt eine konkrete Geschichtsvision, indem vage Vorstellungen vom historischen Geschehen in eine konkrete bildliche Darstellung des Realen gegossen wird. Die doppelte - topografische und historiografische - Rekonstruktion verbindet dabei die Spannungsfelder von Geschichte und Erinnerung, von realistischer Darstellung und Idealisierung und mündet schließlich in eine Art "Gedächtnislandschaft", deren Funktionsweisen in der einhundertjährigen Rezeptionsgeschichte jeweils sehr unterschiedlich reaktiviert wurden. Während viele Zeitgenossen wie Peter Rosegger von der mimetisch exakten Umsetzung des panoramatischen Blicks vom Bergisel fasziniert sind, wird die historisch-politische Vereinnahmung des Schlachtenpanoramas vor allem in den beiden Weltkriegen deutlich. Bereits 1918 schreibt Alfred Polgar in der "Weltbühne" ironisch-kritisch über seinen Besuch der "Kriegsausstellung" im Wiener Prater, in der auch das Innsbrucker Panorama zu sehen ist, "weil doch der Mensch in diesen ruhigen Zeiten hie und da auch etwas Kriegerisches zur Anregung der Phantasie" brauche: "Dort istıs still und kühl. Die Gewehre und Kanonen schießen, aber sie knallen nicht. Die Getroffenen fahren mit der Hand ans Herz, aber es tut ihnen ­ dieses tröstliche Bewußtsein haben wir ­ nicht weh. Feindliche Soldatenhaufen stürmen wild den Berg hinauf, aber sie kommen nicht vom Fleck."
Bis in die Gegenwart scheint das Panorama der Schlacht am Bergisel ein schier unerschöpfliches Reservoir für die Befriedigung von Sehnsüchten, aber auch für die radikale Ablehnung ganz bestimmter Vorstellungen von einer "Heimat Tirol" zu bieten. Insofern ist dieses bedeutende Kunstdenkmal, das erst 1974 unter Schutz gestellt wurde, mehr ein Spiegelbild der Selbstvergewisserung einer sich im Umbruch befindlichen Gesellschaft, als die reale Abbildung historischer Ereignisse. Daran ändert auch der durch eine raffinierte Lichtregie erzeugte (Hyper-)Realismus der Darstellung nichts; ja er verschleiert geradezu die inszenatorische Wirkung der Panoramenmalerei.
Dasselbe Jahrhundert bringt den Historismus, also die Idee von einer objektiven Geschichte und einer möglichst exakten Wiedergabe von Vergangenheit hervor. Auch das Panorama verfährt historistisch, indem es den Betrachter in eine vergangene Zeit an den "realen Schauplatz" zurückversetzt. Das Ziel einer Beschäftigung mit den Wirkungen des Panoramas kann es aber nicht sein, die historische Darstellung als vermeintliche Geschichtslüge zu denunzieren oder die Landschaftsdarstellung als "falsches" Dokument aus einer präfotografischen Zeit zu entlarven. Letztlich ist jede Geschichte (Re-)Konstruktion, ob in Form des schriftlichen Diskurses oder als visuelle Repräsentation. Es kann also letztlich nur darum gehen, die Mechanismen der Inszenierung offenzulegen und die Verfahren der Bilderzeugung zu hinterfragen.
Ein Mittel dazu ist die Fotografie, jenes Medium also, das aus denselben kulturgeschichtlichen Voraussetzungen wie das Panorama entstanden und zum Reproduktionsmedium von Wirklichkeit schlechthin geworden ist. In der Suche nach einer möglichst perfekten Naturkopie ist es ihr wie keinem anderen Medium gelungen, eine direkte Übertragung von Realität ins Bild zu suggerieren. Während das Dispositiv des Panoramas in unserer Wahrnehmung Zweidimensionales in Dreidimensionales verwandelt, übersetzt die Fotografie, nach den zentralperspektivischen Prinzipien der Camera Obscura, Raum in die Fläche des Bildes. Im Panorama beruht die Illusion des Raumes auf der Sehschwäche des menschlichen Auges, das aus einer Distanz von zehn Metern den groben Pinselstrich - und damit das zweidimensionale Artefakt als solches - nicht mehr erkennen kann. In der Fotografie können Raumwahrnehmung und Distanz durch das Mittel der Schärfentiefe suggeriert und gesteuert werden. Mitten ins Faux Terrain, also ins Grenzland der Dimensionen gesetzt, kann die Kamera entsprechend der Fokussierung die Raumwirkung des Panoramas brechen und offenlegen oder ihre Grenzen gänzlich verwischen und neue Illusionen schaffen.